DIE BEWEGUNG

Die Balance... oder wie das Pferd sich mit dem Reiter bewegt

Kenntnisse über die Funktionsweise des Bewegungslernens sind ausschlaggebend für die Entwicklung von Pferd und Reiter.


Das Gleichgewicht ist ein dominantes Thema in der Ausbildung des Pferdes. Die Klassische Reitlehre ordnet das Pferd zur Bestimmung des Ausbildungsgrades nicht in Leistungskategorien, sondern in Gleichgewichtsstufen ein. Das legt die Bedeutung dieses Elementes für die Ausbildung des Pferdes zum Reitpferd dar. 

Zwei Körper (Pferd und Reiter) müssen einen gemeinsamen dynamischen Schwerpunkt finden und einhalten. Balance ist beim Reiten körperlich, mental und energetisch zu betrachten. Pferd und Reiter sind fortwährend bestrebt, Gleichgewicht zu erzielen. Das Ausbalancieren geschieht in einer Einheit, in der beide versuchen, sich ausgeglichen zu bewegen, indem sie von außen einwirkende Kräfte kompensieren. Sich selbst auszubalancieren ist schon schwer genug, es dem Pferd zu gestatten ebenso; und dann beide zusammen... ziemlich kompliziert. Balance erfolgt in drei Dimensionen. Ungeachtet der anatomischen/physiognomischen und physikalischen Voraussetzungen ist es eine Herausforderung an die Reaktionsfähigkeit, denn der Zustand der Balance ist ja flüchtig, also nicht gleichbleibend und äußeren Einflüssen ausgesetzt. Daher ist es auch vergeblich, wenn der Reiter sich im Halten in Position setzt. Die richtige Haltung, den richtigen Sitz muss er, in der sich permanent verändernden Bewegung finden. 


Nur mit innerer und äußerer Losgelassenheit ist es in dem zur Verfügung stehenden Zeitrahmen der Bewegung möglich, sich selbst und den Partner der Bewegung auszubalancieren. 


 

Die Balance unter dem Reiter muss das Pferd lernen. Der Reiter beeinflusst das Pferd im Findungsprozess - positiv oder negativ. Durch fehlerhafte Körperhaltung/Körperausrichtung und unkoordinierte Bewegungen wird die Balance gestört. Ein nicht gerittenes Pferd ist im Gleichgewicht, aber mit einer anderen Schwerpunktposition (Massenmittelpunkt). Im Verlauf der Ausbildung zum Reitpferd wird dieser (hoffentlich) nach hinten verlagert; durch vermehrte Lastaufnahme der Hinterhand wird die Vorhand entlastet. Der Reiter hat das Pferd vor sich. Mit dem Reiter soll das Pferd in die Balance kommen. Ausbalancierte und symmetrische Bewegung fühlt sich sicher an, damit erklärt sich, dass alle Unsicherheiten in der Bewegung, sowohl beim Pferd als auch beim Reiter, eine Ursache unter anderen in fehlender Balance finden.

Bewegungslernen ist ein autonomer Prozess. Der Mensch kann die Bewegung des Pferdes nicht manuell ausbilden, er bildet die Bereitschaft zur Bewegung aus. Gedrillte Abrichtung erzeugt keine Losgelassenheit, keine Balance, sondern verspannte, ängstliche Bewegungen. Aus einer steifen, in Abhängigkeit von mechanischen Auslösern entstandenen Bewegung, kann eine unabhängige, selbst geformte Bewegung werden, die der Reiter dann für sich nutzen kann.

Die ästhetische Bewegung von der unästhetischen zu unterscheiden ist gar nicht so einfach (zumindest zeigt das die Praxis). Die erstere ist nicht die spektakuläre, es ist immer die von innen heraus motivierte Bewegung. Eine kleines Beispiel: Stell Dir vor, jemand fordert Dich auf, Dich anmutig zu bewegen; kneift und stößt Dich dabei aber jeden Meter vorwärts. Und als wäre das nicht schon schwierig genug, beschwert er Dich noch mit einem Rucksack, der keineswegs über Deinem Schwerpunkt bleiben will. Je uneleganter Du Dich bewegst, umso strenger wird der Aufforderer mit seinen Bestrafungen. Du zweifelst (zu Recht) an seinem Verstand. Du wirst immer desorientierter und unsicherer, weil Du die ungerechtfertigten Reglementierungen und Strafen fürchtest. Dein Körper droht zu streiken. Aber obwohl körperliche Schmerzen und Stress Dich plagen, während Du unaufhörlich aufgefordert wirst, nun aber gefälligst etwas mehr Eleganz und Ausdruck zu zeigen, versuchst Du dennoch, Dich irgendwie vorwärts zu bewegen. Nein? Das würde dann doch zu weit gehen und Du würdest das gemeinsame Vorhaben einstellen? Ach was!

Wenn Dir aber der Aufforderer in Funktion eines Choreographen ein Musikstück vorspielte, Dir einen begrenzten Raum zur Verfügung stellte und es Dir überließe, sich auf diesem, zum Takt der vorgegebenen Musik, möglichst anmutig zu bewegen? Das Objekt auf Deinem Rücken sich ruhig verhielte und ständig bemüht wäre, sich jeder Deiner Bewegungen anzupassen? Würde Dir das gelingen? Nicht nur, dass es Dir gelingen würde, Du hättest auch noch Freude daran. Und nichts dagegen einzuwenden, wenn der Choreograph sich nun als Regisseur entpuppt und Dir eine, an weitere Vorgaben gebundene Aufgabe stellt. Du würdest gern mit ihm zusammenarbeiten, weil, wie hoch in den Anforderungen er sich auch steigern wird, er Dir kein Unbehagen zufügt und Dich als eigenständige Persönlichkeit schätzt. Er fordert Deine Initiative. Das schmeichelt Dir. Denn er will ja unbedingt Dich. Er glaubt an Dich, sonst würde er Dich nicht mit dieser Aufgabe betrauen. Das spornt Dich an und bringt ungeahnte Bewegungsharmonie und Anmut hervor. Du freust Dich auf jede neue und noch schwierigere Aufgabenstellung. Kein Ziel erscheint Dir zu hoch. Du lernst Deinen Körper immer besser kennen und kannst ihn immer besser einsetzen. Du bist nahezu unermüdlich mit Engagement und Freude bei der Sache.

So funktioniert BewegungsLernen!

Der psychologische Aspekt in der Ausbildung wird weit unterschätzt. Stress verhindert Bewegungslernen. Viele Faktoren sind ausschlaggebend, in der Beurteilung von Pferd und Reiter und in der daran angepassten Ausbildung. Die Bewegung aus freiem Willen, resultierend aus als sinnvoll erachteten Gründen, hat immer eine andere Bewegungsqualität als eine erzwungene Bewegung. Eigentlich hätte vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Erkenntnisse der Bewegungslehre in den letzten Jahrzehnten schon längst ein Umdenken erfolgen müssen. Bewegungen bei Pferd und Reiter werden immer noch von außen gesteuert, also physikalisch erarbeitet. Echte Bewegung, also von innen gesteuerte, selbst initiierte Bewegung, wird funktionell erzielt. Physikalische und funktionelle Ausbildungsmethodik unterscheiden sich elementar. Ignorieren kann der gewissenhafte und kompetente Ausbilder das nicht. Er muss aber auch in der Lage sein, die didaktische Leistung zu erbringen. Der Ausbilder analysiert und korrigiert - und entwickelt die Bewegung.

Reiten ist eine ständige Suche nach dem Schwerpunkt. Die Schwerpunktlinie (Lot) in jeder Bewegung finden - bei Reiter und Pferd separat und gemeinsam in der Bewegung. Je ausgefeilter sich Rezeptoren und Sensoren entwickeln, je verzweigter und differenzierter sich die Synapsenverbindungen (die neuronalen Verbindungen zwischen Nervenzelle und Nervenzelle, Sinneszelle, Muskelzelle...) bilden und erweitern, umso komplexer und variantenreicher gestaltet sich das Bewegungsrepertoire. Das Unterbewusstsein übernimmt die Steuerung der Bewegung und perfektioniert sie.

Für das Erlernen einer Bewegung benötigt der Organismus sein eigenes Gehirn. Kein manueller Zwang von außen kann die diffizilen Prozesse, die ablaufen, bis eine Bewegung verankert ist, auslösen. Er kann nur die echte, erlernte Bewegung imitieren. Das Gehirn handelt entsprechend seiner Wahrnehmung. Die eigene Körperwahrnehmung steuert die Qualität der Bewegungsausführung und des Bewegungsausdrucks. Beim Menschen und beim Pferd. Ein Reiter, der sich seines eigenen Körpers nicht bewusst ist und diesen somit nicht effizient einsetzen kann, wird Verspannungen und Fehlhaltungen entwickeln, die er auf den Körper des Pferdes übertragen wird. 

Denkmuster und innere Haltung äußern sich in der Bewegung des Körpers. Wie innen, so außen. Die innere Haltung spiegelt sich in den Bewegungen. Jede Blockade des Reiters im Motor seines Körpers, im Beckenbereich, wird das Pferd, das er reitet, früher oder später übernehmen. Zwei Körper in einer Bewegung sind dermaßen voneinander abhängig, um sich in der Balance bewegen zu können, dass jede Blockade eine Interaktion vielerlei Ausgleich- und Ausweichmechanismen nach sich zieht. Lawinenartig lösen anfänglich geringe und oftmals nicht bemerkte Verspannungen, und daraus resultierende Fehlhaltungen, Veränderungen und Verzerrungen der Bewegungsausführung aus. 

Ob das Pferd natürlich oder zwanghaft ausgebildet wurde, also korrekt oder dilettantisch, zeigt sich am Kriterium des Schenkelgängers oder Rückengängers. Ersterer mit weg gedrücktem Rücken und inaktiver Hinterhand, festgezogenem Hals und Kopf, letzterer mit schwingendem, tätigem Rücken und durch den Körper fließenden Bewegungen. Das ist ein Grundmerkmal der Bewertung der gesamten Ausbildung. Ebenso wird der Reiter, der sich nicht über den Rücken bewegt und somit seinen Schwerpunkt und damit seine Balance verloren hat, versuchen, sich über seine Gliedmaßen auszubalancieren. Das bleibt für das Pferd nicht ohne Folgen. Manuelle Therapien, die die Symptome, aber nicht die Ursachen angehen, helfen nicht weiter. Die Korrektur muss weitestgehend in der Bewegung erfolgen. Wie also beim Pferd Schenkelgänger und Rückengänger unterschieden werden können, ist auch beim Menschen ersichtlich, ob seine Bewegungen durch den Körper gehen. Ob sie vom Motor, der Mittelpositur gesteuert sind oder ob sich nur die Arme und Beine bewegen, weil der Körper seinen Schwerpunkt verloren hat. Die Schwerpunktsuche von Reiter und Pferd, und schließlich in der gemeinsamen Bewegung beider Schwerpunkte, ist entscheidend für den Bewegungsablauf. Beide müssen unabhängig voneinander im Schwerpunkt sein, damit sie den gemeinsamen Schwerpunkt finden können. Ist der Reiter hinter der Bewegung, kann das Pferd seine eigene Balance nicht finden, da es nun primär den Gewichtsausgleich für die einwirkende Kraft schaffen muss. Der Körper gleicht mit anderen Bereichen das aus, was eigentlich das Becken in Steuerungsfunktion als Produkt hervorbringt: die Beweglichkeit der Extremitäten. 

Ein Pferd, das vorhandlastig geht, hat seinen Schwerpunkt zu weit vorn. es schiebt im Ausgleichsbestreben den Reiter nach hinten um den Ausgleich zu schaffen. Das Gehirn bekommt die Informationssendung für das Becken zurück gesendet, weil dieses außer Betrieb ist. Nun sucht das Gehirn nach Alternativen der Impulssteuerung für das Ziel: Fortbewegung. Und sendet den Bewegungsimpuls direkt an die Extremitäten. Ist der Rücken nicht aktiv, werden die Gliedmaßen separat bewegt. Der Körper läuft in einem fehlerhaften Modus. Die Beine bewegen das gesamte Pferd, nicht umgekehrt. Das kann ohne bleibende Schäden auf Dauer nicht funktionieren. Durch zwanghafte Bewegung wird der natürliche Bewegungsmechanismus ausgeschaltet und die Extremitäten zur separaten Bewegung gezwungen. Beide Partner der Bewegung ziehen sich fest. Ursachenforschung ist angesagt. Also nochmal, weil es so wichtig ist: Ein dauerhaft hinter der Bewegung des Pferdes zurückbleibender Reiter hindert das Pferd daran, seinen eigenen Schwerpunkt in der Bewegung finden und tarieren zu können. Es muss ausgleichen. Damit beraubt es sich selbst der Funktion seines Beckens als Motor. Es entsteht Überlastung und Verschleiß der Gliedmaßen. Das Pferd wird immer unbeweglicher, der Reiter ebenso. Fehlerhafte Bewegungsmuster werden manifestiert. Beide können aus diesem negativen Kreislauf ohne professionelle Hilfe nicht ausbrechen. Entweder der Reiter gibt auf, oder das Pferd wird versuchen, sich solange irgendwie fortzubewegen, bis die Schmerzen es ausbremsen und unbrauchbar werden lassen. Das kann dauern... Pferde sind leidensfähig. 

Soweit sollte es der Ausbilder aber nicht kommen lassen. Anstatt dem Pferd die Ausbinder aufzuschnallen und den Reiter zum still sitzen zu zwingen (damit provoziert er, dass beide noch fester werden) muss er die Ursache angehen. Das ist sehr (zeit-)aufwändig. In der Praxis wird dann auch häufiger zum Schnellverfahren gegriffen. Symptombehandlung ist aber kontraproduktiv. Bewegungslernen ist individuell. Es ist eine Wechselwirkung diffiziler Prozesse, die voneinander abhängig sind, um ein Ergebnis zu erzielen. Nun erklärt sich eigentlich von selbst, dass diese Prozesse vom Reiter nicht zu kontrollieren, nur zu initiieren sind. Das Pferd muss mit seinem Körper klar kommen, dann kann es ihn mit zunehmender Qualität einsetzen. 

Die Koordinierung der Bewegung ist abhängig von der Bewegungswahrnehmung. Wie verhält sich das Pferd, wenn man longiert (ist schwieriger als gedacht und selten zu beobachten) anstatt reitet? Bewegt sich das Pferd an der Longe geschmeidiger? Und wie sieht es denn mit der eigenen Bewegungsqualität aus (siehe oben)? Die Körperwahrnehmung entscheidet über die Bewegung. Ein Reiter, der sich schlurfend vorwärts bewegt, wird kaum jemals ein sich elegant und geschmeidig bewegendes Tier sein eigen nennen. Der Bewegungsmechanismus, mit dem der Reiter sich am Boden bewegt, den nimmt er in seiner Grundstruktur mit in den Sattel. Die Qualität seiner Bewegungen am Boden ist entscheidend für die auf dem Pferd, weil das Grundmuster in seinem Gehirn als adäquat verankert ist. Grobmotorische, mechanische Bewegungen erfolgen handwerklich; sie benötigen einen zeitlich größeren Rahmen, als die intuitiven, feinmotorischen Bewegungen, die deutlich schneller (weil unbewusst) ablaufen. Und alles, was schnell abläuft, kommt dem Pferd entgegen und erhält es sensibel anstatt es abzustumpfen. Deshalb kann Reiten kein Handwerk sein, denn die intuitiv feinmotorisch erfolgten Handlungen sind entscheidend dafür, wie gut sich das Pferd bewegt, respektive wie gut der Reiter reitet. 

Reiten ist im Grunde das Erstellen von Bewegungsmustern beim Pferd, deren Verankerung und Abruf. Der Prozess des Bewegungslernens ist nicht sichtbar, nur in seinem Ergebnis. Die Fähigkeit, Pferd zu wirklich herausragenden Bewegungen zu bringen, bedeutet seitens des Reiters ein hohes Maß an Zugeständnissen hinsichtlich freien Handlungsspielraums. Ein Reiter, dem Angst nicht fremd ist, wird immer nach Kontrolle streben. Kontrolle verhindert Bewegungslernen beim Pferd. Besser wird ein Handlungsrahmen gesteckt, innerhalb dessen dem Pferd die Möglichkeiten und die Zeit! gegeben werden, die es für eine optimale Lösung der Bewegungsaufgabe benötigt.

Das Erschließen von Möglichkeiten 

setzt voraus, dass sie bekannt sind. Der Reiter kann die Anleitung für sein Ziel abgeben. Umsetzen und entwickeln muss das Pferd sie selbstständig, damit es seine Grenzen ausloten und erweitern kann. Die eigene Entscheidung zur Bewegungsausführung eröffnet alle Möglichkeiten zur Bewegungsverbesserung. In diesem Entwicklungsprozess muss das Pferd seine Sinne einsetzen können - um seinen Körper selbst zu steuern; schließlich gehört er ihm. Mit der unerschütterlichen Grundlage der Eigeninitiative zur Bewegungsausführung wird dann das Pferd vom Menschen geführt und ausgebildet. Das Pferd mit seiner individuellen Veranlagung wird integriert, nicht dominiert. Vertrauen statt Zwang. Das ist der Schlüssel zu ästhetischen Bewegungen.